Menschen, die psychische Erkrankungen einmal erlebt, durchlitten haben und vielleicht auf Dauer unter ihr leiden, erleben häufig ihr und unser Mensch-Sein, unsere Lebensentwürfe und –vorstellungen viel intensiver, ja hautnaher und feinfühliger, als Menschen ohne – oder vor solchen Erfahrungen.
Vor allem die Sinnfrage unseres Da- und So-Seins schreit förmlich in Angesicht von Krankheit und Behinderung nach Antworten.
Eine dieser Antworten – so brüchig, bruchstückhaft und unvollkommen sie dann auch sein mag – ist Gott, Gottglaube und die damit festverbundene Hoffnung auf Heil, Heilung, Kommunikation, Gemeinde und Kirche.
So treffen wir in unseren Gemeinden – vielfach, häufig ohne es zu bemerken – Menschen unter den Eindruck und Erlebnis von psychischer Erkrankungen auf ihrer Suche nach kirchlich religiöser Gemeinschaft an.
Die Arbeitsstelle Pastoral für Menschen mit Behinderung der DBK will mit ihren Möglichkeiten mit dazu beitragen, den Umgang, die Kommunikation und die Integration zu fördern und die Bistümer in dieser Aufgabenstellung zu unterstützen.
Darüberhinaus stehen wir für Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für pastorale Mitarbeiter/innen mit unseren fachlichen Angeboten zur Verfügung.
Aus einem Fürbittbuch 1
Herr, heute möchte ich Dir danken, dass es mir von Tag zu Tag besser geht. Sicher freut es Dich auch. Wenn meine Zukunft auch noch im Dunkeln liegt, will ich es doch mit Dir wagen.
Aus dem Fürbittbuch der Rheinischen Klinik Köln.
Nimm mir die Angst. Sie behindert all meine Unternehmungen und lässt mich orientierungslos werden.
Aus dem Fürbittbuch der Rheinischen Klinik Köln.
Info zu den Bildern
Die Bilder entstanden im Rahmen eines künstlerisch-spirituellen Projektes im Oktober 2000. Das Angebot richtete sich an Patienten der Entgiftungsstation für Abhängige von illegalen Drogen.
——–
Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischer Erkrankung
“Der Mensch lebt nicht vom Brot allein…“
Unter diesem Satz aus dem Evangelium standen die Fotografien, die die Schülerinnen und Schüler der Johann-Chistoph-Winters-Schule Köln, die der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln angeschlossenen Schule für Kranke, zusammen mit ihrer Kunstlehrerin, Frau Ursula Müller-Rösler, erarbeiteten.
Die Bilder und auch die Begleittexte setzen sich mit der Frage auseinander, was der Mensch – über das notwendig Materielle hinaus – zum Leben braucht. Sie geben damit Einblick in die Wünsche und Sehnsüchte junger Menschen in unserer heutigen Gesellschaft.
Die Fotografien und Texte wurden uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt von
Frau Müller-Rösler.
Liebe
Ich liebe die Liebe. Die Liebe ist eine Rosenstraße.
Auf diese Straße möchte ich mich legen und von
der Liebe träumen.
Für mich ist Beziehung wichtig.
Ich finde es schön eine Freundin zu haben.
Die Zukunft hat einen goldenen Boden.
Der Mensch lebt von seiner Familie.
Ich lebe in einer Schattenfamilie.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Der Mensch braucht Kontakt. Es ist manchmal so schwer Kontakt, Begegnung herzustellen. Ich wünsche mir einen Menschen, dem ich vertrauen kann.
Hunger nach Geborgenheit,
Umarmung, Wärme, Zuneigung
Das Hören ist für Menschen sehr wichtig, man braucht es um sich in der Umwelt zurechtzufinden.
Für mich ist das Hören auch sehr wichtig. Nur es ist so, daß ich laute Geräusche nicht ab kann, weil meine Ohren zu sensibel aufgebaut sind.
Als Erklärung dafür habe ich, daß wenn man Stress ausgesetzt ist, eben lautere Geräusche und Stimmen nicht so aushält.
Der Mensch braucht nicht nur Nahrung, sondern auch Liebe, weil er sonst eingehen würde. Und Liebe wird besonders auch bei der Berührung ausgestrahlt.
Sanfte Berührungen strahlen dies aus:
- Wärme
- Sanftheit
- Gefühl
- Erwiderung der Berührung
Berührung erzeugt Wärme, die ich mir von anderen Menschen wünsche. Bei sanften Berührungen weiß ich, daß man mich liebt. Und wenn ich die Person auch mag oder liebe, kann ich die Gefühle erwidern.
Ich lebe von der Zeit. Die Zeit soll schneller vergehen. Erwachsen möchte ich ganz schnell werden. Ich möchte die Zeit erfahren. Einen Führerschein möchte ich machen.
—–
Was ist normal? Was ist verrückt?
Viele Menschen haben keine Vorstellung davon, wie es in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aussieht, wer sich darin befindet, was Gründe sind, für einen Aufenthalt dort. Für sie, die draußen stehen, sind die Kinder und Jugendlichen, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind, nicht normal – eben verrückt. Doch was ist „normal“, was ist „verrückt“? Gibt es wirklich eine solch klare Trennlinie? Dazu haben sich Schülerinnen und Schüler der Montessori-Hauptschule, des Schlossgymnasiums und der Kolleg-Schule Kikweg in Düsseldorf ihre Gedanken gemacht.
Verrückt ist für mich
- dass die Menschen unachtsam mit ihrer Welt umgehen
- wenn Menschen umgebracht werden
- wenn Menschen sich umbringen und andere mit hineinziehen
- wenn Männer Frauen vergewaltigen
- wenn man auf andere Menschen losgeht
- wenn Leute jeden Tag zu Hause rumhängen
- wenn Mädchen ihre tollen fünf Minuten kriegen und man nicht weiß, woran man ist
- wenn Menschen wirres Zeug reden oder tun, weil sie psychisch krank sind
- Gameboy spielen
- S-Bahnsurfen
- Krieg führen
- sein Leben aufgeben
- für mich gibt es höchstens im guten Sinn etwas Verrücktes: wenn jemand z. B. einem anderen 100 Rosen schenken würde
Normal ist für mich
- sich dem Alltag anzupassen
- einfach brav und lieb sein
- einfach langweilig sein
- wenn Fortuna verliert
- wenn meine Mutter mich anbrüllt
- wenn ich ausflippe
- wenn jemand nur selten seelische Probleme hat
- wenn jemand so handelt, wie er wirklich ist und sich nicht verstellt, nicht verrückt
Wenn jemand sagt: „Der ist ja nicht normal“, dann überlege ich immer, was ist normal? Wer ist der Maßstab in unserer Gesellschaft? Für mich gibt es kein „normal“, denn für mich ist jeder „normal“, der seine Meinung „auslebt“, der ganz er selbst ist. Normal ist der, der sich nicht anpasst! Oder ist der normal, der Markenklamotten trägt mit einer Modellfigur? Ich sage: Wenn es für mich kein „normal“ gibt, gibt es für mich auch kein „verrückt“. Oder ist jemand verrückt, der mal ausgelassen über die Straße tanzt? Oder der aus tiefer Trauer, wegen Depressionen und Problemen, von der Brücke runterspringt? Ich würde sagen: NEIN!
Kristin, 14
Man sagt, normal sind die Leute, die das machen, was alle machen, die sich so benehmen, wie alle anderen, und die, die sich so verhalten, wie sich alle verhalten. Verrückt ist alles, was nicht der „Norm“ entspricht. Alles, was vom Normalmaß „weggerückt“ ist. Ist die Norm denn wirklich der richtige Maßstab? Verrückt ist außergewöhnlich, das Gegenteil des Gewohnten. Das Wort „Verrückt“ kann man oft hören. Verrückt kann auch etwas Schönes, Lustiges sein.
Heike, 14
Verrückt definiert sich immer von unserer Gesellschaft her. Verrückt ist leider das, was wir nicht annehmen. Verrückt zieht immer gegen den Strom. Verrücktsein, heißt nicht, schlecht sein. Verrückt ist einfach nur anders. Es gibt nette und bescheuerte Verrückte. Aber es gibt auch nette und bescheuerte „Normale“.
Normal heißt nicht gut. Normal heißt angepasst. Normal ist unauffällig. Normal zieht mit der Menge. Nur normal wird akzeptiert.
Fabian, 15
NORMAL, das sind nur die anderen. Viele wollen normal sein und keiner schafft es. Normal ist, wenn die Sonne scheint, der Regen weint, der Wind an den Bäumen rüttelt und der Mensch … das ist normal. Normal ist der, der tut, was „man“ tut.
VERRÜCKT ist, wenn die Sonne weint, der Regen scheint, und der Wind an den Menschen rüttelt. Verrückt ist, wenn man das Leben an sich rütteln lässt. Aber das ist nicht verrückt. Das heißt: zu leben.
Ansgar, 19
Die Texte stammen aus dem sehr lesenswerten Buch von: Marie-Luise Knopp, Klaus Napp (Hg.), Wenn die Seele überläuft. Kinder und Jugendliche erleben die Psychiatrie, Edition Balance im Psychiatrieverlag, 3. Auflage, Bonn 1996, Seite 18 – 20.
In dem Nachwort zu dem eben zitierten Buch schreibt der Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. med Hans-Jürgen Groebner:
„Mara, Michaela, Patrick und all die anderen Jugendlichen berichten eindringlich, was in ihrem Leben unerträglich geworden ist, krank gemacht und zu Verzweiflungstaten oder in eine Abhängigkeitsproblematik geführt hat. Es ist für uns Fachleute überraschend und erstaunlich, wie klar sie bestimmte Ereignisse benennen, die sie als Beginn einer fehlgelaufenen Entwicklung erlebt haben. Es sind Verlusterlebnisse, Enttäuschungen und Trennungserfahrungen, bei denen nicht genug Verständnis und Hilfe durch Erwachsene vorhanden war, die sie zwangen, vorher begangene Wege zu verlassen. „Auffällige“ Verhaltensweisen signalisierten, dass eigene Lösungsversuche probiert wurden, scheiterten und in Bereiche permanenter Gefährdung (z. B. durch Drogen) führten.
Die Jugendlichen beschreiben, was sie bei ihrem Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als hilfreich erlebten, aber auch was sie als negativ oder doch für ihre weitere Entwicklung als behindernd empfanden. Hilfreich war, dass sie dort Menschen vorfanden, die verständnisvoll zuhörten und mit denen man auch sonst reden konnte, in und außerhalb von Therapien. Die kinder- und jugendpsychiatrische Station bot eine günstige Atmosphäre, es sei dort „wie eine große Familie“ gewesen. Man habe Freunde finden können. Nach Zeiten krisenhafter Zuspitzung mit erhöhter Verletzbarkeit, zunehmender Ratlosigkeit und Einengung bot die Kinder- und Jugendpsychiatrie einen entlastenden Schutz- und Schonraum. Wenn allerdings der stationäre Aufenthalt zu lange dauerte und dadurch die Befähigung, eigenständig zu handeln, zu wenig Spielraum und Unterstützung bekam, wurde die als Behinderung erlebt.
Als schwierig und spannungsgeladen betonen Jugendliche das Verhältnis von „Drinnen“ (in der Klinik, auf dem „Gelände“) und „Draußen“. So war es nicht einfach, die Gründe dafür, dass man in der Jugendpsychiatrie war, anderen draußen zu vermitteln. Einige, denen man das erzählte, wandten sich ab. Freundschaften gingen auseinander. Hier wird erkennbar, dass ein Aufenthalt in der Psychiatrie immer noch „stigmatisierend“ sein kann und die Wiedereingliederung draußen nach dem Klinikaufenthalt dadurch erschwert ist. Es ist zu hoffen, dass die Berichte in diesem Buch dazu beitragen, mehr Verständnis für die „Normalität“ dieser Jugendlichen, die in Krisen geraten oder krank werden, herzustellen.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie wird aber auch selbst noch daran arbeiten müssen, dass Ausgrenzung und Abwertung von Jugendlichen, die zu ihrer Klientel werden, abnehmen.
Hierzu muss sie sich aus ihren „klinischen Burgen“ vermehrt in das direkte Lebensumfeld der Jugendlichen hineinbegehen und dort ihre Mitwirkung oder Behandlung ansiedeln, wo die Jugendlichen leben.“
Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten und in Krisen finden sich aber nicht nur in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Für sie alle gibt es ein ?Davor? und ein ?Danach?. Überhaupt gelangen nur die Wenigsten von ihnen in eine solche Einrichtung. Andere finden Hilfe in ambulanten Einrichtungen, etwa einer Beratungsstelle oder Sonderschule oder finden alleine eine Lösung für ihre Situation. Viele – sowohl die Kindern und Jugendlichen als auch ihre Familien – bleiben jedoch in ihrer Not allein.
Aufgabe der Pastoral ist es, die Not der Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, mit psychischen Störungen und in Krisen wahrzunehmen, egal wo sie vorkommen, sei es in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie oder in der Gemeinde vor Ort und ihnen Wegbegleiter auf ihren ungeraden Wegen zu sein, ihnen Hilfen anzubieten bei der Bewältigung ihrer besonderen Lebenssituation und der Frage nach dem Sinn dessen.
Darüber hinaus ist es Aufgabe der Seelsorge, ihre Möglichkeiten dafür einzusetzen, dass diese Kinder und Jugendlichen, die – sei es im Vorfeld ihrer „Erkrankung“ oder als Folge daraus – die verschiedensten Verlusterfahrungen gemacht haben, im Raum von Kirche und Gesellschaft eine Beheimatung finden können und dass Vorurteile ihnen gegenüber abgebaut werden. Dabei sind immer auch die eigenen Möglichkeiten und Grenzen als Seelsorger zu beachten. Sinnvoll und notwendig ist in solchen Fällen eine Vernetzung und Kooperation von Seelsorge vor Ort mit Hilfseinrichtungen des psychosozialen Netzes.