für andere Menschen da sein
© Bistum Münster
Bischof Genn besucht Haus Hall –
Begegnung auf Augenhöhe mit Menschen mit Behinderung
Pressedienst Bistum Münster | 23.01.14
Gescher/Münster (pbm). „Hallo Bischof, du willst bestimmt gucken, wie wir Deutsch machen.“ Lukas strahlt übers ganze Gesicht, als er den Bischof von Münster, Felix Genn, in Haus Hall begrüßt. Lukas ist eines von zehn Kindern der Unterstufe 4, die der Bischof an diesem grauen und nasskalten Januarmorgen in Gescher besucht. Wie seine Klassenkameradinnen und -kameraden ist Lukas geistig behindert. Umso größer werden die Augen des Bischofs im Laufe der Deutsch-Stunde, an der er im Stuhlkreis sitzend teilnimmt, als er erlebt, was die Mädchen und Jungen im Alter zwischen neun und zehn Jahren schon alles können. Und das, obwohl Deutsch offensichtlich nicht das Lieblingsfach von allen ist: „Oh, Lesen, nicht schon wieder“, meint Lukas, als Lehrerin Elisabeth Dunkelmann den Kindern erklärt, dass es in der kommenden halben Stunde darum gehen wird, Wörter mit einem „el“ zu lesen und dabei auch gleich festzustellen, ob das „el“ am Wortanfang, in der Mitte oder am Schluss steht.
Der Besuch in Haus Hall, bei dem der Vorsitzende des Diözesancaritasverbandes Klaus Winterkamp den Bischof begleitet, ist der erste einer Serie von Besuchen in sozialen Einrichtungen, die Genn sich für dieses Jahr vorgenommen hat. „Mir ist es ein großes Anliegen, konkret zu erleben, welch wichtiger Dienst in diesen Einrichtungen geleistet wird”, erklärt er bei der Begrüßung durch den Direktor, Thomas Bröcheler, und Johannes Nondorf, den Leiter der Förderschule von Haus Hall. Bewusst wolle er sich Zeit nehmen, um sich einen fundierten Eindruck von den Lebenswirklichkeiten der „Menschen am Rande“ zu machen. „Ich will Einblick nehmen in das, was hier geschieht, und es einfach auf mich wirken lassen“, sagt er. Die Verantwortlichen von Haus Hall haben dem Anliegen des Bischofs nicht nur Rechnung getragen, sondern freuen sich, dass der Akzent des Besuches so gesetzt wird. „Wir wissen um die Bedeutung von Begegnung und freuen uns, dass der Bischof in der konkreten Begegnung und ohne, dass wir einen großen Bahnhof veranstalten, die Vielfalt von Menschen mit Behinderung erleben will“, sagt Thomas Bröcheler. Die Arbeit mit ihnen sei „wesentlicher Teil des Auftrags von Kirche“. „Menschen mit Behinderung sind für uns auch Ebenbild Gottes. Von daher ist die Begegnung mit ihnen auch eine Gottesbegegnung“, unterstreicht er.
Solche Begegnungen hat der Bischof an diesem Vormittag jede Menge. In dem farbenfroh und fröhlich eingerichteten Klassenzimmer der Unterstufe 4 lädt Sascha ihn ein, zu raten, wo er wohnt; Lukas zeigt ihm die Mappe mit all den Buchstaben, die die Mädchen und Jungen schon gelernt haben, und Robin, einer der beiden Klassensprecher, verabschiedet ihn am Ende der Unterrichtsstunde mit den Worten „Lieber Bischof, wir haben noch ein Geschenk für dich“. Dann überreicht er ihm formvollendet und mit Handschlag eine Mappe, in der sich Fotos aller Schülerinnen und Schüler der Klasse finden.
Von der Unterstufe 4 geht es zur Berufspraxisschule 3. Zu ihr gehören junge Menschen zwischen 18 und 19 Jahren, die im Sommer ihre Schullaufbahn beenden werden. Auf dem kurzen Weg von Klasse zu Klasse erklärt Bereichsleiter Johannes Nondorf, dass die Mädchen und Jungen im Unterricht vor allem die Erfahrung machen sollten: „Ich kann“. Und der Bischof ist nicht nur von diesem Können beeindruckt, sondern auch von der Leistung der Lehrerinnen: „Die Geduld kann ich nur bewundern.“
Auch in der Berufspraxisschule 3 gibt es keine Berührungsängste, sondern große Begeisterung, als der Bischof eintrifft. Als er die 18-Jährige Anna-Sophie fragt: „Darf ich neben Dich?“, strahlt sie übers ganze Gesicht und ruft ihm ein erfreutes „Ja“ zu. Anna-Sophie erklärt dem Bischof dann auch gleich, dass es im Sommer „endlich raus“ aus der Schule gehe und dass sie dann in der Kantine von Haus Hall arbeiten werde. Auch alle anderen erläutern ihre Zukunftspläne: Jutta möchte in ein Wohnheim im Stift Tilbeck einziehen, Marvin möchte am liebsten Kindergärtner werden und dann zu Hause ausziehen, Kevin macht gerade ein Langzeitpraktikum auf einem Bauernhof und erklärt stolz, dass er sogar einen „Trecker“ fahren darf, Mehmet wiederum will gerne in einer Schreinerei arbeiten. Er berichtet dem Bischof, dass er in Haus Hall sehr viel gelernt habe, und zwar mehr als reines Schulwissen: „Ich werde, wenn ich durch die Stadt gehe, auch manchmal beleidigt, aber dann sag‘ ich einfach was Nettes.“ So sehr sich allerdings die jungen Leute auf ihre Entlassung freuen, so ist doch einigen auch Wehmut anzumerken: „Das ist hier wie eine Familie“, sagt Daniel. Doch schnell wird es wieder fröhlich, als Anna-Sophie ihrem bischöflichen Stuhlnachbarn erzählt, dass sie ihn ohnehin schon kenne: „Ich habe dich schon in der Kirche gesehen, als ich meinen Bruder in Münster besucht habe.“ Und der Bischof lädt sie ein: „Wenn du das nächste Mal da bist, musst du mir unbedingt ‚Hallo‘ sagen.“ Auf ein Wiedersehen hoffen offensichtlich noch andere: „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder“, verabschiedet sich Daniel ganz cool vom Bischof. Dieser ist auch von diesem Besuch begeistert: „Es ist herrlich“, sagt er und zeigt sich zugleich überrascht, dass es durchaus Schülerinnen und Schüler gibt, die es auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen. „Wir versuchen einfach immer, zu schauen, was den Fähigkeiten der Mädchen und Jungen am besten entspricht“, sagt Johannes Nondorf.
Vorbei an Hühnern, um die sich die Kinder kümmern, Pferden, die zur Therapie genutzt werden, einem integrativen Kindergarten und der Kirche, wo jeden Sonntag Gottesdienst gefeiert wird, geht es zur Werkstatt. Dort arbeiten in Gescher rund 400 Menschen mit Behinderung. Begleitet von Maria Buxel, die den sogenannten „2. Lebensraum“ leitet, besucht der Bischof die „Gruppe 7“, in der Menschen mit schwerst- und mehrfacher Behinderung Gitterspann-Beschläge produzieren, Wasseruhren recyceln und Grußkarten herstellen. „Warum hast du deine Mütze nicht an?“ begrüßt Franz-Josef den Bischof, der sich dann von den Menschen mit Behinderung und ihren Betreuerinnen die Arbeitsgänge ganz genau erklären lässt. „Ganz genau“ ist ein gutes Stichwort, denn in der Werkstatt ist und muss alles minutiös geregelt sein. Es gibt große rückwärtslaufende Stoppuhren, auf denen rote Felder den Menschen anzeigen, wie lange sie noch arbeiten müssen. Auch Tagesablauf und Wochenplan sind auf großen bunten Tafeln für alle gut sichtbar notiert. „Alle Arbeitsschritte sind ganz genau definiert. Jeder macht exakt das, was er kann“, sagt Maria Buxel. Zudem gebe es für jeden einzelnen einen „Perspektivplan“, der beschreibe, was in Zukunft noch möglich sei: „Dabei ist für uns ein Dreischritt wichtig: erst wahrnehmen, dann verstehen, dann handeln.“ Seit zehn Jahren schon betreut sie die Menschen in den Werkstätten von Haus Hall. Warum? „Ganz einfach: weil es mir große Freude schenkt“. Ihr sei es ein Anliegen, die Menschen auf ihrem Weg zu begleiten. „Ich wünsche mir, dass sie möglichst selbstständig, glücklich und zufrieden leben und arbeiten“, sagt sie.
Von diesem Einsatz der haupt- wie ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Haus Hall zeigt sich der Bischof im Austausch mit Vorstand, Leitung und Seelsorgern der Stiftung Haus Hall tief beeindruckt: „Ich habe mir gedacht: Die Lehrerinnen könntest du gleich heilig sprechen. Was da und in den Werkstätten an Liebe, Geduld und menschlicher Kraft investiert wird, damit das Leben von Menschen mit Behinderung gelingt, das hat mich sehr bewegt.“ Mit seinem Besuch, betont der Bischof, wolle er Wertschätzung, Dank und Respekt zum Ausdruck bringen. Zugleich wolle er in Zeiten, in denen sehr viel über Inklusion gesprochen werde, deutlich machen, dass er für Inklusion sei, dass diese aber auch Grenzen habe und es vor allem eine „bis zum Ende durchdachte Konkretisierung“ brauche. „Entscheidend ist für mich, dass es eine intensive menschliche Zuwendung gibt, so wie ich sie heute hier erlebe, und das ist in einem normalen Regelbetrieb sicher kaum zu leisten“, sagt Bischof Genn. Die öffentliche Debatte sei oft nicht nah an der Wirklichkeit, und wer eine gewisse „Romantik der Inklusion“ kritisiere, werde leicht in eine Schublade gesteckt.
Intensive menschliche Zuwendung erlebt der Bischof noch einmal bei seiner letzten Besuchsstation in Haus Hall. Gemeinsam mit zehn Bewohnerinnen und Bewohnern der „Anna Gruppe“ isst er zu Mittag. In der Wohngruppe leben acht Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 58 und 80 Jahren. „Wie heißt du?“ fragt die 80-Jährige Ursula, die seit 66 Jahren in Haus Hall wohnt, zur Begrüßung und lädt den Bischof ein, neben ihr Platz zu nehmen. Es gibt Kartoffeln, Rosenkohl und Schnitzel, aber vorher wird natürlich gebetet. Ursula spricht „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast“, dann fassen sich alle an den Händen, Ursula ergreift die Hand des Bischofs, strahlt ihn an, und alle rufen sich fröhlich zu: „Ich wünsch Euch allen einen Guten Appetit“.
© Bistum Münster